Steuern Algorithmen heute schon Ihr Marketing?

Was haben Sie noch in der Hand? 2020 wird es laut Schätzungen von Cisco 50 Milliarden Sensoren auf der Welt geben, die ununterbrochen Daten in Umlauf bringen. Schon heute filtern Algorithmen für uns Informationen, indem sie Daten von unseren Surfgewohnheiten im Netz nutzen, unseren sozialen Netzwerken und mit wem und wieviel wir kommunizieren. Als Resultat erhalten wir bestimmte Themen und Angebote, andere für den Nutzer vermeintlich uninteressante Dinge werden ausgeblendet. Gibt man das Wort CEO ein, erhält man fast nur Bilder von Männern, Google und Flickr verwechseln Menschen mit Affen, Facebook löscht historisch wichtige Bilder. Folgen Marketingstrategien in Zukunft nur noch einem Master-Algorithmus? Und was bedeutet das für das Marketing?

Algorithmen sind nicht objektiv

Die Harvard-Professorin Latanya Sweeney googelte ihren Namen, wie viele von uns das tun. Im Zusammenhang mit ihrem Namen erschien eine Anzeige mit dem Titel „Wurde Latanya Sweeney verhaftet?“ Da sie noch nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war, untersuchte sie den Fall und stellte fest, dass die #Algorithmen ihr – aufgrund der afroamerikanischen Herkunft –  eine kriminelle Neigung unterstellten. Der Grund war, dass im Netz in Verbindung mit afroamerikanischen Vornamen signifikant mehr Haftanzeigen zu finden waren, sodass auch ihr unterstellt wurde, sie habe sich etwas zuschulden kommen lassen.

Ein anderes Beispiel: Googles 2015 installierte Foto-App kategorisierte dunkelhäutige Menschen versehentlich als „Gorillas“, denn sie enthält eine automatische Verschlagwortung von Bildern. Das Gleiche galt für Flickr – dort hatten die Algorithmen dunkelhäutige Menschen mit Begriffen wie „Affe“ oder „Tier“ gekennzeichnet.

Algorithmen basieren zwar auf Gleichungen und Zahlen und sind deshalb vermeintlich objektiv. Programmiert aber werden sie von Menschen, die festlegen, welche Gleichungen und welche Zahlen verwendet werden.

Autonome Autos und mangelhafte Daten

In letzter Zeit mehren sich die Meldungen über Unfälle mit selbstfahrenden Autos. Nach dem ganzen Hype muss man einfach konstatieren, dass autonomes Fahren ein sehr komplexes Thema ist. Die Algorithmen liefern nur bis zu 90% sichere Daten. Sie fassen alle Signale zusammen und zeichnen ein dreidimensionales Umfeld des Autos. GPS-Daten, Position des Wagens, Radarsignale, fahrende Lastwagen, Radfahrer, Fußgänger, Verkehrsschilder etc. dienen der Berechnung.  Sie lernen bei Tesla sogar mit jedem gefahrenen Kilometer dazu. Allerdings funktionieren ihre Berechnungen genauso wie die o.g. Beispiele: sie können z.B. keine weißen Lastwagen von einem weiß wirkenden Himmel unterscheiden, die Laser funktionieren nur in bestimmten Winkeln, mit festgelegten Reichweiten und ausgesuchten Oberflächen etc.

Ähnlich wie diese Autos bewegen sich die Algorithmen für Onlinekampagnen im Netz: es entstehen mangelhafte Daten, die mangelhaft analysiert werden. Auch wenn die Zuverlässigkeit inzwischen enorm hoch ist. Meldet keiner der Sensoren einen Fehler – wie bei der Professorin oder bei Googles Foto-App-  glaubt der Algorithmus, alles abgedeckt und richtig errechnet zu haben. Das muss aber so nicht stimmen!

Investitionen in Datenteams

Marco Bernasconi, Director der AG für Werbemedienforschung in der Schweiz, sagt: „Der Online-Werbemarkt ist zu einem relevanten Teil außer Kontrolle“. Und gibt den Algorithmen die Schuld.

Er konstatiert, dass algorithmenbasierte Werbung bloß noch Erwarten erfüllt und keine Überraschungen mehr bietet. Die Kunden der Werbeagenturen wüssten nicht genau, was mit ihren Kampagnen geschieht. Das Remarketing schlage häufig fehl, wenn z.B. dem Käufer das bereits gekaufte Produkte, dem Reisenden das bereits gebuchte Hotel immer weiter angepriesen werde.

Hinzu kommt meines Erachtens, dass bei zahlreichen Ads die bloße Einblendung registriert und damit ein falsches Bild wiedergegeben wird. Auch die sogenannten „Werbewirkungsstudien“ sind ihr Geld meist nicht wert, da sie oft vom jeweiligen Anbieter durchgeführt werden, völlig unterschiedliche Definitionen von Kaufbereitschaft oder Markenerinnerung zugrunde legen und nicht vergleichbare Erhebungsmethoden verwenden.

Ein Beispiel aus der Politik macht nachdenklich: Obama gewann nachweislich seine (im Wahlkampf als unwahrscheinlich prognostizierte) Wiederwahl 2012 u.a. weil er 100 Millionen Dollar in ein persönliches Datenteam investierte. Das Team errechnete mit Hilfe von Algorithmen täglich zehntausende von Wählersimulationen. Millionen von Menschen wurden mit ihrem Profil hinterlegt. Seine politischen Reden wurden analysiert und mit Algorithmen auf die vorher angelegten Profile berechnet und optimiert. Die Aussagen für exakt ermittelte Zielgruppen wurden entsprechend über deren Kanäle verbreitet – hauptsächlich über Google und Facebook!

150 Milliarden Mess-Sensoren

Nachdem Google und Facebook mit ihrer dominanten Marktstellung und ihren Algorithmen dafür gesorgt haben, dass sich die Anzahl der genervten User und damit die der Adblocker weltweit innerhalb eines Jahres fast verdoppelt hat, entwickeln sich auf ihren Plattformen inzwischen Streuverluste wie in den klassischen Medien. Hinzu kommt, dass die Fragmentierung der Online-Medien dazu führt, dass gestandene Senior Media Manager wie Christian Meyer von Müller-Milch Veranstaltungen wie die dmexco und Procter und Gamble das gesamte Targeting infrage stellen.

Trotzdem können wir der digitalen Revolution im Marketing nicht entgehen. Denn jedes Jahr verdoppelt sich die Menge an produzierten Daten. Alleine im Jahr 2015 kamen so viele Daten dazu wie in der ganzen Menschheitsgeschichte bis 2014. In zehn Jahren wird es 150 Milliarden Mess-Sensoren geben – das heißt: die Datenmenge wird sich alle 12 Stunden verdoppeln. Die Abwicklung von 70% aller Finanztransaktionen erfolgt heute schon über Algorithmen.

Softwareplattformen mutieren zum „Persuasive Computing“ und degradieren uns in Zukunft mit ausgeklügelten Manipulationstechnologien in der Arbeitswelt zur reinen Abwicklung von Arbeitsprozessen. Und oft weiß man erst hinterher, was richtig war. So wollte man bei der Schweingrippeepidemie durch gezielte Online-Kommunikation, jeden zur Impfung bewegen. Inzwischen weiß man aber, dass ein bestimmter Prozentsatz der Geimpften an Narkolepsie erkrankt ist. Glücklicherweise haben sich nicht mehr Menschen impfen lassen.

Bei Nebenwirkungen fragen Sie…?

Spielen wir das Spiel der Datenoptimierung durch Algorithmen etwas weiter, sehen wir in Zukunft online nur noch Vorschläge, die mit uns als jeweiligem Individuum kompatibel sind. Dadurch entsteht der sogenannte „#Echokammereffekt“  – man bekommt nur noch seine eigene Meinung wiedergespiegelt.

Das kann auch eine nicht gewollte polarisierende Wirkung zur Folge haben, da sich durch stark personalisierte Information separate Zielgruppen bilden, die keine Gemeinsamkeiten mehr verbinden und die sich letztendlich nicht verstehen.

Doch wen soll man fragen, um den richtigen Weg im Dschungel von Daten, Kampagnen, Buzz-Words zu finden? Momentan gibt es niemanden, der sich ernsthaft mit diesen Themen auseinandergesetzt hat: Die Agenturen beginnen gerade erst, kritische und übergreifende Branchendiskussionen zu führen. Der Gesetzgeber hinkt der gesamten Entwicklung hinterher. Fundierte Literatur zu diesem Thema gibt es nicht.

Marketing in der Champions League

Die Zukunft des Marketing liegt meiner Ansicht nach in der Fähigkeit, kompetente Kooperationspartner, Mitarbeiter und Freelancer zu identifizieren, miteinander zu vernetzen und zu führen.

Marketingmanager müssen sich insbesondere die Fragen stellen: Welche Mitarbeiter arbeiten zukünftig überhaupt in Marketingabteilungen? Datenexperten wie bei Obama? Brauchen wir kreative Denker im Marketing überhaupt noch? Welche Fragestellungen sollen außerhalb organisiert und gelöst werden?

Ich denke, die Verbindung von Datenanalysten und kreativen Denkern ist eine absolute Notwendigkeit, auch wenn sie erfahrungsgemäß von der Persönlichkeitsstruktur nicht zusammenpassen! Die Kooperation dieser beiden Gruppen wird jedoch die einzige Möglichkeit sein, sich sinnvoll mit zukunftsorientierten Marketing-Strategien auseinanderzusetzen.

Auch die Strukturen muss man gezielt hinterfragen: Wer z.B. entscheidet, welcher Teil der Werbung algorithmenbasiert gestreut wird? Wer entscheidet die Targeting- und Retargeting-Mechanismen? Wer entwickelt die Kreativ-Kampagne und die Guerilla-Aktionen, die ihren Werbenutzen durch die Verbreitung im Internet erzeugen? Und wer arbeitet daran, das Gefängnis des Big Data und der Algorithmen zu verlassen und „Out of the Box“ einmalige Branding-Kampagnen zu erschaffen?

Dabei muss man auch einmal ungewöhnliche Wege gehen:

Als gutes Beispiel sei hier Kaggle genannt: Das US-Start-up organisiert gut dotierte Wettbewerbe, wie man mit neuen Algorithmen großen Datenhalden brauchbare Prognosen entlocken könnte. Wofür die akademische Forschung Jahre braucht, gelingt hier manchmal in wenigen Wochen. Für diese ständig stattfindenden Wettbewerbe haben sich 27.000 Experten weltweit eingeschrieben. Die Idee dahinter:„Wettbewerbe bringen Menschen aus verschiedenen Bereichen mit ganz unterschiedlichen Fragestellungen zusammen. So beschäftigen sich Menschen mit Sachen, die sie sich nie angesehen hätten.“  

Also braucht das Marketing neue Kompetenzen, um der steigenden Fragmentierung, der wachsenden Konsumentenmacht und dem eigenen Leistungsdruck standzuhalten. Denn eines ist auch sicher: Marketing gewinnt an Bedeutung und muss sich mehr denn je auch um andere Themen wie z.B. die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle kümmern. Wer zukünftig erfolgreich sein will, muss in der Champions-League spielen!

Bildquelle: Colourbox ID #5286285

 

 

 

 

 

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