Jeden Tag erreichen uns Nachrichten, welche Einzelhändler gerade aufgeben bzw. Insolvenz anmelden. Liegt es nur an der momentanen Corona-Situation oder sehen die Inhaber auch keine Perspektive mehr in der Zukunft? Zahlreiche Handelsexperten, Unternehmensberatungen und kluge Verbände haben sich schon seit Jahren mit den Megatrends, der Digitalisierung, der Modernisierung, dem Erlebnisshopping etc. auseinandergesetzt und intelligentes Papier verteilt! Doch die geschriebenen Konzepte blieben auch oft dort wo sie waren – entweder auf dem Papier oder digital abgelegt!
Retrospektiv und veraltet – das Genehmigungsverfahren
Zu einseitig ist die Sichtweise der handelnden Akteure. Denn pragmatisch gesehen fängt alles bei der jeweiligen Kommune an: entweder beim (Ober)Bürgermeister und/oder beim Wirtschaftsförderer. Ein Investor klopft an die Tür und ist an einem Grundstück interessiert. Er stellt sein Konzept vor: Nutzung, Verkaufsfläche, Parkplätze und erwartet, dass das entsprechende Baurecht geschaffen wird. Er lockt mit neuen Arbeitsplätzen, zusätzlichen Steuereinnahmen, einer besseren Versorgungslage und evtl. der Beseitigung einer unschönen Brache.
Meist liegt der Kommune ein Einzelhandelskonzept auf veralteten weil retrospektiven Daten vor, das die Einzelhandelszentralität (als Quotient aus dem POS-Umsatz und der Kaufkraft für den Einzelhandel) ermittelt hat. Geprüft wird noch anhand der umstrittenen Sortimentslisten, ob das Angebot auch „zentrenverträglich“ ist. Ein paar Prognosedaten (u.a. Bevölkerungsentwicklung) zeigen die „Zielzentralität“ auf, danach steht der Genehmigung eigentlich nichts mehr im Wege.
Handel ist kein „Magnet“ mehr
Der momentane Rückzug des Handels während der Corona-Krise legt den Finger in die Wunde: die eher defensiven Reaktionen der Städte zeigen, dass sie das eigentliche Problem noch gar nicht verstanden haben. Schaut man sich große und kleine Kommunen an, sind die Innenstädte durch Dönerläden, Bäckereiketten, Markeneinerlei so langweilig, dass man schon nach ein paar Sekunden auf sein Handy schaut.
Bei den sogenannten „Frequenzbringern“ wie Kauf- und Warenhäusern fiel der Umsatz von 14 Milliarden Euro auf 4 Milliarden Euro fast ins Bodenlose. Die Bekleidungshäuser wie H & M, C & A, Esprit, Gerry Weber etc. haben Umsatzeinbußen von 25 Prozent. Der Foodbereich dagegen boomt mit einem satten Umsatzplus. Und so konnte der Lebensmittelbereich die gestiegenen Baukosten in den Innenstädten bezahlen, während das bei den Fashionanbietern zunehmend nicht mehr der Fall war.
Corona war der Beschleuniger – ist aber auch die große Chance
Glaubt man dem Institut für Handelsforschung haben zwei Drittel der Einzelhändler keine Online-Präsenz. Corona hat diesen Prozess zwar beschleunigt, der vergangene Sommer hat aber viele wieder in den Tiefschlaf versetzt. Es ist nur teilweise die Unkenntnis: oft fehlt auch der Glaube an die Omnichannel-Nutzung der Kunden und die Chance, an den möglichen Touchpoints der Customer-Journey zu partizipieren. Die Vorstellungen über die Kosten sind meist überzogen – denn für 15 Euro monatlich kann heute jeder kleinere Einzelhändler an einer professionellen Plattform teilhaben.
Doch auch hier sind wir wieder am Ende der Kette angelangt! Fangen wir doch noch einmal bei der Verwaltung bzw. den Genehmigungsbehörden an! Welches Leitbild prägt zum Beispiel die Innenstadt von Köln oder von Bergisch Gladbach oder von Gelsenkirchen? Inwieweit spielt der Handel darin eine Rolle? Oder geht es vielmehr um Fördergelder für Radkonzepte, Fußgängerbrücken und sonstige baulichen Ideen? Spielt die Zukunft des Handels überhaupt eine entscheidende Rolle bei der Leitbildentwicklung?
Oft gibt es teils lieblose Testversuche die Innenstädte zu beleben, denen jedoch kein gesamtheitliches Konzept zugrunde liegt. Und es fehlen ihnen vor allen Dingen die elementarten Treiber für die Aufenthaltsqualität: Flair und Ambiente. Es macht auch keinen Sinn, das Autoproblem gegen das Radfahrproblem auszutauschen.
Das Wissen über die Konsumenten ist essenziell
Die politischen Entscheider, die kommunalen Behörden etc. – welche Kenntnisse haben Sie über Ihre Käuferschichten in der Stadt? Welche Potenziale bieten diese? Welche Anforderungen haben zum Beispiel Millennials an den Einkauf? Welche Möglichkeiten muss man den traditionellen Konsumenten (übrigens laut Definition der Boston Retail Partners ab 38 Jahre) bieten? Eines haben alle gemeinsam: Sie alle möchten Neuheiten, individuelle Betreuung und ein besonderes Shopping-Erlebnis.
Wenn wir das seit Jahren vielbeschworene „Erlebnisshopping“ ernst nehmen, dann müssen Politik und Handel gemeinsame Pläne für die Innenstädte entwickeln. Denn es nutzt nichts, wenn der Händler im Geschäft das Erlebnis schafft und der Kunde anschließend ein unattraktives Umfeld betritt, dass von Aufenthaltsqualität weit entfernt ist.
Retailtainment in seiner besten Form
Alle sind sich darüber einig: die bloße Fertigung und Bereitstellung von Produkten ist längst passé. Die Konsumenten möchten entdecken und sich begeistern, etwas Neues finden. Real-Life-Räume sorgen für einen regen Austausch von Ideen und Erlebnissen wie bei L’Occitane an der 5th Avenue. Erwartungen über Produkte und Preisschilder werden dadurch aufgelöst, dass Geschäfte nicht mehr wie Geschäfte aussehen. Veranstaltungen beispielsweise mit Influencern sorgen dafür, dass die Kunden außerhalb ihres normalen Kaufverhaltens vorbeischauen.
Was bieten die Städte, um solche Entwicklungen im Handel zu unterstützen? Das Beispiel von _blaenk – einem Start-Up, das „Marken einen Raum gibt, um neue Produkte im stationären Handel zu testen“ – zeigt, wie überholt Sortimentslisten sind und wie wichtig es ist, neue Formate zu testen. Der Retailer ist eine Mischung aus Concept Store, Beratung und dazugehöriger Lounge.
Derartige Handelskonzepte lassen sich auch auf die Kommunen übertragen: eine Stadt braucht Ambiente, muss wie eine Marke Geschichten erzählen, die Menschen begeistern und sich lebendig und lebenswert darstellen. Längst haben Studien ergeben, dass der stationäre Handel für den Bestand von Marken und Marktplätzen von entscheidender Bedeutung ist.
Die vier C’s der Customer Jouney gelten auch für die Kommen: Customer Centricity, Convenience, Customization und Contribution. Es gibt kein Zurück: Investitionen in Konzepte und Digitalisierung sind auf beiden Seiten unausweichlich!