Bildung und Corona: Zeit, das Hirn zu lüften

Das Defizit des deutschen Bildungssystems wurde durch die Schulschließungen während Corona brutal offengelegt. Keine digitalen Lernplattformen, sondern E-Mail und Telefon waren die häufigsten Kommunikationsmittel. Die überwiegende Lehraktivität (96% laut einer Untersuchung des ifo-Instituts) während der Schulschließungen war die Bereitstellung von zu bearbeitenden Aufgabenblättern. Nur 64% der SchülerInnen erhielten einmal pro Woche dazu Rückmeldungen. Seit Monaten arbeiten sich Bundesregierung, Landesregierungen, Gewerkschaften, Eltern- und andere Verbände an diesen Themen mit gegenseitiger Schuldzuweisung ab. Offensichtlich haben die föderal Zuständigen nichts dazugelernt und arbeiten ebenso wie die Schulen noch in der Kreidezeit. Krisen wirken jedoch vor allem dadurch, dass sie alte Phänomene auflösen!

Homeschooling: mal digital – mal an der Haustür

Beruhigend zu wissen, dass es auch Schulen gibt, die mit engagierten Lehrkräften komplette Netzwerke und Plattformen erstellt haben, um digitalen Unterricht zu gewährleisten. Viele Lehrkräfte liefen jedoch mit den Arbeitsblättern von Haustür zu Haustür, damit die Eltern die Aufgaben abschreiben konnten. Wenn Unterricht via Zoom, Teams oder anderen Plattformen ausprobiert wurde, kassierte garantiert der Datenschutzbeauftrage diese Initiative. Das ist eigentlich ein Skandal, denn viele Lehrer hatten keine datenschutzrechtlichen Anhaltspunkte, mit denen digitaler Unterricht gelingen konnte.

Ministerien: Auswüchse des Bildungsföderalismus

Viele Ministerien haben bei der Kommunikationspolitik versagt, denn die wenigsten Informationen erreichten am Ende auch die Schüler und Eltern. Hervorzuheben ist hier ein positives Beispiel: Der Bildungsministerin von Mecklenburg-Vorpommern Bettina Martin war es wichtig, ihre SchülerInnen in Kenntnis zu setzen und zu beteiligen. Sie stand vier Tage nach Schließung der Schulen beim Landesschülerrat auf Instagram live Rede und Antwort.

Gewerkschaften: Suche nach schuldigen Politikern

Jede Maßnahme, die für die Schulen beschlossen wurde, hatte zur Folge, dass die Gewerkschaften schöne Geschichten auf ihren Websiten veröffentlichten, was alles nicht funktioniert. Wohl wissend, wie unterschiedlich die Gegebenheiten an den Schulen sind und es keine allumfassende Handlungsanweisung gibt, die blind umgesetzt werden kann. Es ist jedoch das gelernte Kreidezeit-Ritual: Das Ministerium gibt etwas bekannt, die Gewerkschaft ist erst einmal dagegen.

Elternverbände: Empörung als Zeitgeist

Unverstandene und unter Stress stehende Eltern lieferten jede Menge Munition, um diese Diskussionen zu befeuern. Das letzte Beispiel war das Vorpreschen der NRW Bildungsministerin Yvonne Gebauer, die Schulen vor Weihnachten zwei Tage früher zu schließen, damit über einen Zeitraum von 5 Tagen vor Heiligabend die Gefahr einer Neuinfektion minimiert wird. Ziel war es, dass Eltern und Großeltern gemeinsam Weihnachten feiern können. Die Lehrerverbände und -Gewerkschaften gingen auf die Barrikaden, dass diese zwei Tage fehlen und man ja auch Klassenarbeiten an den Tagen schreibt. Die Eltern sahen sich mit der Betreuung alleine gelassen.

Schritt in die falsche Richtung

Natürlich geht es allen Beteiligten nicht nur um die Wissensvermittlung, sondern auch um die Betreuung der Kinder von Berufstätigen. Doch kann es richtig sein, dass wir durch Corona wieder in den Frontalunterricht zurückfallen, damit die Tische und Stühle virengerecht ausgerichtet sind? Sind wir wirklich der Innovationsstandort, der so oft hervorgehoben wird? Oder liegt es daran, dass uns die Bildung unserer Kinder doch nicht so wichtig ist?

Die Fakten sprechen für sich (Stand 16.11.20)

Das RKI registriert immer mehr Ausbrüche an Schulen. Die Bundesregierung weist zudem darauf hin, dass „Jugendliche über zwölf Jahren ein mit Erwachsenen vergleichbares Infektions- und Übertragungsrisiko haben“.

Auch die Zahlen der Kultusministerkonferenz vom vergangenen Donnerstag weisen auf ein deutliches Infektionsgeschehen an Deutschlands Schulen hin:

  • 106 Schulen (0,37 Prozent) geschlossen, mehr als 4.000 Schulen (14 Prozent) teilweise geschlossen
  • 198.156 Schülerinnen und Schüler (1,8 Prozent) sowie 13.101 Lehrkräfte (1,46 Prozent) in Quarantäne

Wann allerdings jemand in Quarantäne muss ist in den Gesundheitsbehörden so unterschiedlich geregelt, dass man den Überblick verliert.

Kreative Ideen gefragt – und teilweise gefunden

Wohl dem, der eine innovative und lösungsorientierte Schulleitung hat. Einige Schulen haben die Voraussetzungen für den Hybrid-Unterricht in der Zwischenzeit entwickelt. Das wäre eine Kombination aus Fern- und Präsenzunterricht.

Um Klassen zu teilen könnte man jede Menge leerstehende Gebäude wie Hotels, Gaststätten und Museen nutzen. Die haben die digitalen Bedingungen für ihre Gäste und Besucher ja schon geschaffen! Für die Beaufsichtigung des Fernunterrichts per Chat bräuchte man keine ausgebildeten Pädagogen – deshalb würde das Argument des Lehrermangels entkräftet.

Die wenig zielführende Diskussion über Entlüftungsanlagen und deren richtige Bedienung und Wartung könnte durch das Max-Planck-Institut beendet werden. Ein Forscherteam hat eine Anlage konstruiert, die mit Baumarkt-Materialien gebaut wird. Im Einsatz an einer Mainzer Gesamtschule entfernt sie 90 Prozent der Aerosolpartikel. Grundprinzip ist das einer Dunstabzugshaube.

Corona: Chance, das Hirn zu lüften

Verbände, Gewerkschaften und Politik müssen ihre Verantwortung annehmen und ernst nehmen. Statt sich über gegensätzliche Positionen zu profilieren, gemeinsame Vorschläge zum Wohle der Kinder erarbeiten.

Wir haben hier die einmalige Chance für eine disruptiven Wandel in ungeahnter Geschwindigkeit. Die Lernenden müssen für alle Beteiligten wieder in den Mittelpunkt rücken, um innovative Konzepte zuzulassen.

Denn gegen das Virus hilft nicht die Künstliche Intelligenz, sondern das menschliche Verhalten – also eher soziologische Grundsätze. Die Digitalisierung zeigt uns auch, dass wir Menschen eher analoge Wesen sind.

Die Einbindung digitaler Prozesse in den Schulalltag, in Lehrinhalte muss kein Gegensatz sein. So wie die Lehrerin Anika Buche aus Hürth zeigte: Sie hatte vor dem Shutdown ein Gesamtkonzept für den virtuellen Klassenraum erarbeitet, der dann nur noch umgesetzt werden musste.

Das bedeutet jedoch für alle Beteiligten ein kulturelles Umdenken. Die Verhaltensweisen von Politik, Verbänden und Gewerkschaften gehören in die vielbeschworene Kreidezeit, die ja endlich vorbei sein soll. Ein Beispiel für unterschiedliche Sichtweisen verdeutlicht das: Deutschland hat in der Corona-Krise Toilettenpapier gehortet, die Franzosen Kondome.

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